EIN ORT DES GEGEN

Entwurf für einen Vortrag (Auszug)

von Annette Wehrmann

„Der ORT DES GEGEN nimmt genau genommen keinen Platz ein. Er kann an jeder beliebigen Stelle in Erscheinung treten. Der ORT DES GEGEN befindet sich fortwährend in Bewegung: Er tritt kurzzeitig an den inneren und äußeren Rändern […] aus dem städ-tischen Organismus aus. Voraussetzung für den ORT DES GEGEN ist ein Stillstand oder Versagen koordinierter Abläufe, der städti-schen Funktionen: der ORT DES GEGEN ist unter anderem eben der Ort, an dem der Müll liegen bleibt. Der ORT DES GEGEN ist die Rückseite der Utopie, die dritte Dimension. Er kann an allen nicht oder eher provisorisch definierten Plätzen zutage treten, an allen Ecken und Enden der Stadt.

Annette Wehrmann: "Ort des Gegen", bei Hamburg, 2004. © A. Wehrmann.

Der funktionale Stillstand ist ein partieller, eine zeitweilige und örtlich begrenzte Bruchstelle (aber keine Sollbruchstelle) in den glatten und eleganten Abläufen, die Fortdauer und Effizienz der Stadt […] gewährleisten: aus Gründen, die ich zur Zeit noch nicht zur Gänze überblicke, die aber dennoch zwingend sind, wird sich in der Nähe des ORT DES GEGEN häufig eine Imbissbude oder die Filiale einer Burgerkette befinden. An beider Einrichtungen Effizienz und Funktionalität kann nicht gezweifelt werden.

Annette Wehrmann: "Gegn Statur" © A. Wehrmann.

Der ORT DES GEGEN bezeichnet eine Bruchstelle für zweckfreie Negation, insbesondere für ein zweckfreies Vergehen von Zeit, ma-terialisiert in der Zunahme/Anhäufung von Abfall (hallo broken-window-Theorie). Irgendwo zwischen zum Stillstand kommen und radikaler Freisetzung. Am ORT DES GEGEN können die Einwoh-ner […] zweckfrei und sinnfrei aufeinander treffen, es ist aber auch das Gegenteil oder gar nichts möglich. Am ORT DES GEGEN wachsen – wie erwähnt – die Halden: Halden an Zeit und Lange-weile, Überfluss und Abfall.“

Aus: „Ein Ort des Gegen.” Entwurf für einen Vortrag von Annette Wehrmann (Typoskript, undatiert).

Annette Wehrmann: "Gegn Demo", Hamburg, um 2005. © A. Wehrmann.

Annette Wehrmann nahm seit den 1990er Jahren mit Performances, skulpturalen Arbeiten und ironischen, temporären Eingriffen Untersuchungen des Stadtraumes sowie der Funktion der Kunst in öffentlichen und (privat-)wirtschaftlichen Räumen vor.

Annette Wehrmann: "Sprengung", Hamburg, 1992, © A. Wehrmann.

Ausgehend von den frühen Projekten „Blumensprengungen“ (1992-1995), einer Reihe absurder kleiner Explosionen in Blumenkübeln und –rabatten in innenstädtischen Fußgängerzonen und öffentlichen Grünanlagen, und den Bar- Projekten „Fever Bar“, „Exoteric Bar“ etc., in denen sie temporäre, autonome ökonomische Gegenräume mit eigener Währung entwarf, hat sie eine ganze Reihe von Arbeiten realisiert, die exemplarisch für die Auseinandersetzung mit Kunst und öffentlichem Raum in den 90er Jahren und der noch andauernden ersten Dekade des 21. Jahrhunderts stehen können. Mit dem „Flohmarkt/Marktbüro“ – Projekt untersuchte sie 1997 anlässlich der Ausstellung „Bridge – the map is not the territory“ die Funktion bzw. die Funktionslosigkeit von Skulptur im Stadtraum sowie die zunehmende Privatisierung und Kommerzialisierung öffentlicher Räume, die auch Gegenstand ihrer 2007 im Rahmen der „Skulptur Projekte Münster“ realisierten Arbeit „AaSpa – Wellness am See“ war, einer drastischen Inbesitznahme und Zerstörung eines städtischen Naherholungsgebietes durch eine fiktive AaFit+Well AG.

Annette Wehrmann: "Aa-Spa", Münster, 2007. © A. Wehrmann.

Andere Projekte setzen sich mit utopischen Gegenentwürfen etwa in Science Fiction und radikalen politischen Entwürfen auseinander, wie die seit 1996 entstehende Serie von UFO-Entwürfen – zuletzt S.C.U.M. – ein U.F.O. für V. Solanas, 2007 im Kunstverein Wolfsburg. Zusammen mit den Architekten Claus Krapf, Joachim Schultz und Christoph Stolzenberg baute sie 2001 anlässlich der Bundesgartenschau in Potsdam einen ehemaligen Wachturm eines Truppenübungsplatzes zu einem magischen Spiegelkabinett um und entledigte ihn damit nachdrücklich seiner Überwachungs- und Kontrollfunktion .“Infoscreens“(2005) und „mmmusic“(2006) thematisieren die Überwachung und Kontrolle des Stadtraumes durch Videoüberwachung (mmmusic) und die zunehmende Lenkung und Kontrolle der Wahrnehmung, etwa durch Infoscreens in der U-Bahn, im letzteren Fall durch illegale Fettfingerattentate auf selbige.

Annette Wehrmann: "Verboten zu sagen: Situationistisch". © A. Wehrmann.

Annette Wehrmann: "Verboten zu sagen: deutsch". © A. Wehrmann.

Seit 2002 entsteht das Projekt „Orte des Gegen“, das die „Rückseite der Utopie“ erkundet, „Utopie“ in diesem Fall als Synonym für den funktionalen Stadtraum zeitgenössischer Stadtplanung, Architektur und Bürokratie zu lesen, dessen ausgefranste Ränder innerhalb und außerhalb des Stadtraums sie fotografisch dokumentiert und mit Demonstrationen, Nachbauten etc. bearbeitet. (KK)

Annette Wehrmann verstarb im Mai 2010.